Stellungnahme zum Audio-Vortrag "Und nichts wird fortan so sein wie bisher..." in Mainz 2012 bei der Interdisziplinären Trauma-Fachtagung von Prof. Dr. Hüther
Von: Verein Adelante [mailto:Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!]
Gesendet: Freitag, 12. September 2014 13:17
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Betreff: Kohärenz und Trauma: interdisziplinäre Überlegungen und Fragen
Sehr geehrter Prof. Dr. Hüther,
wir von der Beratungsstelle Adelante in Bonn arbeiten seit vielen Jahren in unseren therapeutischen Praxen mit schwersttraumatisierten Menschen.
Ihr von uns kürzlich gesehener Audio-Vortrag mit dem Titel "Und nichts wird fortan so sein wie bisher..." in Mainz 2012 bei der Interdisziplinären Trauma-Fachtagung hat uns angeregt, Ihnen umfassend zu antworten.
Zunächst interessiert uns der Versuch mit halbjährigen Babys, denen Filmsequenzen mit grünen unterstützenden und roten unterdrückenden Männchen vorgeführt wurden und die anschließend zwischen roten und grünen Figuren wählen konnten. Wir fragen Sie, ob diese Sequenzen auch in anderen Farbkombinationen durchgeführt wurden und mit wechselnder Rollenverteilung der Farben? Wir würden uns wünschen, dass Sie uns schreiben, wo dieser Versuch veröffentlicht wurde. Wir fragen uns, ob Sie eine eventuell komplexere Versuchsanlage für das Mainzer Publikum vereinfachend zusammengefasst haben oder ob Ihr Bericht und ihre Rückschlüsse sich auf die von ihnen genannte Versuchsanordnung beziehen.
Sie haben in ihrem Vortrag die drei Möglichkeiten benannt, die ein traumatisierter Mensch hat, aus dem Hirnstamm zu agieren: Angriff, Flucht und erstarrte Lähmung. Sie führen Angriff und Flucht als nicht veritable Optionen an, aufgrund der Liebe, die das Opfer zur missbrauchenden Bezugsperson empfände.
Als Neurobiologe haben Sie möglicherweise keine differenzierten Kenntnisse über die Erfahrungen missbrauchter Menschen. Nicht Liebe würde ein Opfer von Angriff und Flucht abhalten - und tatsächlich ist in der Biographie eines jeden Opfers das Sich-Wehren, Fluchtversuche und Flucht zu finden, bevor es diese aufgibt - vielmehr wären es Todesdrohungen und Gewalt, denen die Opfer nicht nur in der konkreten Missbrauchssituation sondern unaufhörlich ausgesetzt sind. Also wenn ein Opfer sich nicht mehr wehrt und nicht mehr flieht, ist es immer aufgrund der Gewalt, die es bereits erfahren hat, auch wenn das Opfer signalisiert, angibt oder sogar mit Vehemenz zum Ausdruck bringt, dass es den Täter, die Täterin oder die Täter liebe. Selbstverständlich gibt es keinen Zweifel daran, dass sexueller Missbrauch durch eine Bezugsperson deutlich sichtbarere psychische Folgen nach sich zieht als Missbrauch durch eine familienfremde Person. Die dritte von Ihnen benannte und als einzige für die Opfer verbleibende Reaktionsmöglichkeit auf Missbrauch, die Erstarrung oder Lähmung, verliert die Tatsache der Täterbeschwichtigung aus dem Blick. Die zum Überleben notwendige Täterbeschwichtigung setzt vom Opfer ein permanentes, aktives auf den Täter Eingehen voraus, auch wenn dieses im Außen nicht sichtbar ist und Erstarrung und Lähmung eine mögliche Form von Täterbeschwichtigung sind.
Offensichtlich kann die Hirnforschung grundsätzlich zwei äußerlich gleich anmutende Handlungen neurobiologisch unterscheiden. Die eine Handlung die Ausdruck einer Traumatisierung ist, gleich ob physischer oder emotionaler Art, kann hirnorganisch entsprechend sichtbar gemacht werden; die gleiche Handlung ohne Traumahintergrund bleibt ohne einen derartigen neurobiologischen Befund. So haben wir Sie verstanden. Räumt also jemand sein Regal auf, um dafür gelobt zu werden, wird sich dies nicht hirnorganisch abbilden, wenn jemand sein Regal dagegen zwanghaft aufräumt, um nicht ausgegrenzt zu werden - zum Beispiel keinen Liebesentzug zu erleiden - wird sich dies hirnorganisch darstellen lassen. Die Handlungsmotivationen, wenn auch unbewusst, bestimmen daher, ob ein Verhalten als posttraumatisch oder als normal bewertet werden kann.
Für uns ergibt sich die Frage, ob das Verhalten eines Menschen zur Herstellung von Kohärenz, der sein Regal aufräumt, weil er Liebesentzug abwenden möchte und dasjenige eines Menschen, der eine Täterbeschwichtigung vornimmt, um nicht erneut physisch traumatisiert (beispielsweise bei rituellem Missbrauch) zu werden und von jemanden, der zu einer Gruppe gehören möchten, hirnorganisch auf die gleiche Weise sichtbar werden. Sollte dies der Fall sein, wäre der Bagatellisierung von Missbrauch Tür und Tor geöffnet. Dies würde in Verbindung mit den Hypothesen der Resilienztheorie bedeuten, dass Täter in ihren Bemühungen Strafmilderung zu erhalten, gute Argumente hätten und die Opfer dadurch gebrandmarkt würden, dass auf sie das "survival of the fittest" Anwendung fände. Es sei denn, das Phänomen der Täterbeschwichtigung wird in seiner ganzen Dimension erkannt. Täterbeschwichtigung richtet sich immer nach dem Täter und wie sich ein Täter beschwichtigen lässt, kann nur das missbrauchte Kind wissen: ein Außenstehender, der Täter und Opfer nicht in der traumatischen Situation erlebt, hat keine Ahnung von dem, was in dieser wirklich vor sich geht. Es gibt also theoretisch unendlich viele Arten Täter zu beschwichtigen. Ebenso viele wie es Vorlieben der Täter gibt, ein Opfer zu quälen und zu manipulieren. Selbstverständlich kann eine alltägliche Handlung wie ein Regal aufräumen, Hemdenbügeln etc. in der Kindheit Täterbeschwichtigung gewesen sein. Im Erwachsenenalter wird diese Handlung dann unter enormem Druck ausgeführt, ähnlich wie das Sich-Verletzen ohne das Außenstehende davon etwas mitbekommen.
Sind Täterbeschwichtigungen gesellschaftskonform, wie Bügeln und Aufräumen, werden sie nicht als solche erkannt. Ist dennoch in der Biographie eines Menschen eindeutig Missbrauch nachzuweisen, so glaubt man, es gäbe Missbrauch der nicht traumatisch wirkt. Dieser Resilienzhypothese, die gesellschaftskonform beschwichtigende Opfer ausgrenzen könnte, kann mit der Hirnforschung entgegengewirkt werden, so dass weder das "survial of the fittest" noch strafmindernde Umstände bei Tätern deren Opfern vordergründig nicht gelitten haben, Raum greifen. Wir möchten nicht ausschließen, dass es Formen der Täterbeschwichtigung gibt, die jahrzehntelang automatisiert ohne nachweisbare Stresshormone persistieren.
So wie wir Ihren Kohärenzbegriff verstanden haben, ist Täterbeschwichtigung ein Baustein neben vielen anderen - hier sei nur Verdrängung und Verleugnung genannt - um Kohärenz herzustellen.
Des Weiteren erwähnen Sie In Ihrem Vortrag als Höhepunkt der thematischen Zuspitzung eines neurobiologischen Kohärenzentwurfes die Herausbildung doppelter Identitäten, wobei Sie von erster und zweiter Persönlichkeit sprechen. Sie haben keine Aussage darüber getroffen, wie sich die Entstehung einer zweiten Identität neurobiologisch nachweisen lässt. Aufgrund des Titels der Tagung und des Titels Ihres Vortrags innerhalb dieser Tagung muss der Zuhörer den Eindruck gewinnen, dass dies erwiesener Stand der Hirnforschung sei. Sollte dies der Fall sein, bitten wir Sie um einen entsprechenden Hinweis auf neurobiologische Fachveröffentlichungen.
Diesen Brief werden wir wie andere fachlich relevanten von Adelante verfassten Briefe auf unserer Website veröffentlichen. Ihre Antwort werden wir selbstverständlich nur mit Ihrer Genehmigung auf unsere Seite stellen.
Mit freundlichen Grüßen im Namen von Adelante
Die Vorsitzenden Sylvia Dachsel und Corinna Wild
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Von: "Prof. Dr. G. Huether"
An: 'Verein Adelante'
Datum: 2. Oktober 2014 um 11:54
Betreff: AW: Kohärenz und Trauma: interdiszplinär Überlegungen und Fragen
Sehr geehrte Frau Dachsel,
Sehr geehrte Frau Wild,
haben Sie vielen Dank für Ihre Nachricht mit den Anmerkungen und Fragen zu einem Vortrag, den ich vor zwei Jahren in Mainz auf der Trauma-Fachtagung gehalten habe.
Die Originalarbeit über die dort erwähnte Studie mit Kleinstkindern finden Sie hier:
http://www.nature.com/nature/journal/v450/n7169/full/nature06288.html
Natürlich bin ich kein Experte auf dem Gebiet der Psychotraumatologie oder gar - therapie.
Aus diesem Grunde arbeite ich sehr eng mit Kollegen zusammen, die hier über einschlägige und langjährige Expertise verfügen.
Mit den Kollegen habe ich vor einiger Zeit auch einen Beitrag verfasst, den ich Ihnen als pdf-Datei in der Anlage beifüge.
Hüther-Neurobiologische Grundlagen der Herausbildung Psychotrauma.pdf
Es mag sein, dass ich mich in den frei gehaltenem Vortrag an der einen oder anderen Stelle etwas unglücklich oder missverständlich ausgedrückt habe.
In dem beiliegenden Artikel sollten aber all diese Unklarheiten ausgeräumt sein.
Gern können Sie diese Antwort mit dieser beigefügten Datei weiter verbreiten.
Mit freundlichen Grüßen
Gerald Hüther
Prof. Dr. Gerald Hüther
Neurobiologische Präventionsforschung
UNIVERSITÄTSMEDIZIN GÖTTINGEN
GEORG-AUGUST-UNIVERSITÄT
Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie
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